Klitschko: "Putin wird sich mit der Ukraine nicht zufriedengeben"
DER STANDARD

STANDARD: Herr Klitschko, wie geht es Ihnen?

Klitschko: Den Umständen entsprechend – was mein Leben und das Leben vieler Menschen in Europa, in der Ukraine betrifft. Wenn ich über deportierte Kinder nachdenke, für die ich im Einsatz bin, dann geht es mir weit entfernt von gut. Wenn ich an junge Menschen denke, Frauen und Männer, die im Krieg ihre Verwandten, ihre Kinder, ihr eigenes Leben verloren haben oder verletzt wurden, dann ist das sehr, sehr schmerzhaft. Krieg ist sehr kompliziert, Krieg hat viele unterschiedliche Schichten, und Krieg ist schrecklich. Aber wir haben gelernt, während des Krieges positiv zu denken. Eine positive Einstellung ändert unglaublich viel. Deswegen geht es mir, danke für Ihre Frage, dementsprechend gut.

Wladimir (links) und Witali Klitschko gehören zu den erfolgreichsten ehemaligen Sportlern der Ukraine. Mittlerweile ist Wladimir Reservesoldat, Unternehmer und leitet eine Stiftung für sozial benachteiligte Kinder. Sein älterer Bruder Witali (rechts) ist seit 2014 Bürgermeister von Kiew.
IMAGO/Chris Emil Janßen

STANDARD: Sie engagieren sich für die Rückführung von hunderttausenden nach Russland entführten Kindern. In welcher Situation befinden sich die Kinder?

Klitschko: Seit 2014 läuft der Krieg, bereits zehn Jahre. An der Frontlinie, die sich immer etwas hin und her schiebt, leben die Menschen mit ihren Familien, mit Kindern. Seit 2014 mussten Familien auf russisch okkupierter Seite ihre Kinder "freiwillig" hergeben – auch um sie in angeblicher Sicherheit zu wissen. Für die Kinder beginnt die Gehirnwäsche: Wir Ukrainer seien Faschisten und Nazis. Wenn sie 18, 19 Jahre alt sind, werden sie mobilisiert, sie müssen in die Armee. Man gibt ihnen Waffen in die Hand. Es gibt Fälle, in denen eine Familie auf beiden Seiten der Front kämpft. Es ist eine Evolution von Genozid, dass man versucht, eine Nation mit deren eigenen Leuten zu zerstören.

STANDARD: Welche Rolle spielt Russlands Präsident Wladimir Putin selbst dabei?

Klitschko: Putins Propaganda erklärt deutlich, dass die Ukraine als Land ein Fehler der Geschichte sei. Ukrainer und Russen seien ein Volk – und überhaupt sei die Ukraine eine ausgedachte Nation. Wenn wir fallen, sind wir nicht die Letzten: Putin wird sich nur mit der Ukraine nicht zufriedengeben. Die baltischen Länder sind als Nächste dran.

STANDARD: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass es anders kommt?

Klitschko: Jeder Krieg hat einen Anfang, einen "Breaking Point" und dann ein Ende. 2024 wird der Breaking Point des Krieges sein. Vor allem von den US-Wahlen hängt unglaublich viel ab: Wie viel Unterstützung bekommen wir? Es geht um Ausdauer. Im Sport schlägt Ausdauer Talent. Und Ausdauer schlägt auch die zweitgrößte Armee der Welt. Es ist enorm wichtig, nicht kriegsmüde zu sein. Es ist enorm wichtig, positiv zu denken. Es ist enorm wichtig, zu unterstützen. Ohne Unterstützung unserer Partner, unserer Weggefährten und der sogenannten freien Welt werden wir es nicht schaffen.

STANDARD: Das verzögerte US-Unterstützungspaket, nachlassende Loyalität in europäischen Ländern. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage vor Ort ein?

Klitschko: Die freie Welt ist erst sehr langsam aufmerksam geworden, sehr langsam wach geworden. Man denkt, alles sei so weit weg. Ich habe die Mehrheit meines Lebens außerhalb der Ukraine verbracht, aber in den vergangenen zwei Jahren war ich mit ein paar Ausnahmen ausschließlich in der Ukraine. Es geht darum, meinem Land zu dienen. Ich habe keinen politischen Posten. Ich habe nur den einzigen Traum, dass der Krieg zu einem Ende kommt. Jeder Krieg hat einen Anfang und ein Ende.

Wladimir Klitschko: "Das Tucker-Carlson-Interview (...) zeigt nur, wie krank Wladimir Putins Verstand und seine Sicht der Welt ist." Archivfoto vom 6.2.2024.
REUTERS/SPUTNIK

Wir sind fest davon überzeugt, dass jede imperialistische Ambition in der Vergangenheit aufgehalten werden konnte. Das Tucker-Carlson-Interview (am 6. Februar 2024, Anm.) hat einen Einblick in Putins Denken gegeben, wie groß das russische Imperium war und wie es wieder aufgebaut werden soll. Das alles zeigt nur, wie krank Putins Verstand und seine Sicht der Welt ist.

Ja, natürlich bekommen wir Unterstützung. Aber wie viel ist genug? Es ist nie genug, solange dieser sinnlose Krieg läuft. 20 oder 40 Leopard-Panzer sind gut, das klingt gut. Dass sich deutsche Panzer gegen die russischen Panzer stellen, ist im Denken der Deutschen ein unglaublich großer Wandel gewesen. Doch auf 2000 Kilometer Frontlinie entscheiden 40 Leopard-Panzer eigentlich nichts.

STANDARD: Die Diskussion wiederholt sich bei den deutschen Taurus-Raketen ...

Klitschko: Ob das Taurus- oder Patriot-Raketen sind: Es geht um die Menge. Wir brauchen keine französischen Soldaten, wie es von Präsident Emmanuel Macron ausgesprochen wurde. Wir kriegen es schon selbst hin, wir sind zwar nicht so viele, können aber klüger als die Russen agieren. Wir brauchen moderne Waffen, damit der Krieg irgendwann wieder zu Ende geht. Diese Unterstützung muss gestern stattfinden. An vielen Stellen sind wir gefallen. Nicht zu vergessen, dass das sowjetische Imperium auch schon mal in Deutschland war. Ich verstehe, dass die Schweiz Neutralität bewahrt. Aber man weiß nie, was mit Europa passiert ...

Wladimir Klitschko: "Man muss sich einfach mit dieser Neutralität klar entscheiden, auf welcher Seite man steht."
IMAGO/Emmanuele Contini

STANDARD: Neutralität spielt auch in Österreich eine große Rolle. Ich möchte Ihnen ein Plakat zeigen, mit dem die rechte FPÖ derzeit Werbung für die Europawahlen macht. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Klitschko: Es gibt Zeiten, in denen Menschen eine kranke Vorstellung haben. Die Ambition, ein altes Imperium aufzubauen, geht einfach weiter und zerstört Leben. Das Böse und das Gute haben immer in der Geschichte der Menschheit gegeneinander gekämpft. Immer. Man muss sich einfach mit dieser Neutralität klar entscheiden, auf welcher Seite man steht. Weil wenn man neutral ist und wegschaut, heißt das, dass man unterstützt, was gerade passiert – also den sinnlosen Krieg und den Angriff auf die Souveränität. Auf das Leben. Auf die Mutter Natur. Neutral zu sein – das heißt, diesen Krieg weiter anzuzünden. Und nicht zu stoppen.

FPÖ-EU-Spitzenkandidat Harald Vilimsky im Rahmen einer Plakatpräsentation zur EU-Wahl, in der er der EU und der legitimen ukrainischen Regierung "Kriegstreiberei" vorwirft.
APA/ROBERT JAEGER

STANDARD: Wie groß ist der Einfluss von Putin in Europa?

Klitschko: Enorm groß. Es gibt immer noch Putin-Versteher. Wir wissen, wie schnell die auf einmal die Farben wechseln werden, sobald Putins Regime fällt. So ist es in der Geschichte immer gewesen, nach Hitler und nach Stalin. Sie werden sagen: "Wir sind nur rekrutiert worden. Wir sind nur beeinflusst worden." Es findet, anders gemeint als auf dem Wahlplakat, tatsächlich ein "Wahnsinn" in Europa statt. Das muss proaktiv gestoppt werden.

STANDARD: Gibt es Ihrer Ansicht nach einen klaren Pfad zum Frieden?

Klitschko: Es gibt nur eine Option. Wir müssen die russische Armee in der Ukraine stoppen. Wir müssen zusammenstehen. Wir müssen zusammenarbeiten. Wir müssen die Feinde der Demokratie bekämpfen. Die Gerechtigkeit in Europa ist leider verlorengegangen. Nicht weit von hier werden Kinder deportiert, vergewaltigt, gequält, umgebracht. Es kann nicht wahr sein, dass dies 2024 in Europa stattfindet.

STANDARD: Würde der Krieg aufhören, wenn Putin nicht mehr da wäre?

Klitschko: Ich bin fest davon überzeugt, dass Putin der Kern des russischen Regimes ist. Und wenn es den Kern nicht mehr gibt, wird sich Russland definitiv ändern.

STANDARD: Was ist Ihre Hoffnung konkret an den Westen, auch an neutrale Länder wie Österreich oder eben auch die Schweiz?

Klitschko: Ich wiederhole mich: Neutral zu sein bedeutet in einem Krieg, Kriegspartei zu sein. (Gerold Riedmann, 3.5.2024)