In seiner Grundsatzrede sprach Macron vor allem über die Zukunft der EU.
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Sieben Jahre nach seiner ersten "Sorbonne-Rede" kehrte Macron in das Auditorium der altehrwürdigen Pariser Universität zurück – diesmal, um den Europäern ins Gewissen zu reden. "Unser Europa ist sterblich, es kann untergehen", erklärte er in einer fast zweistündigen Rede, die in viele europäischen Diplomatenbüros europäischer Hauptstädte übertragen wurde. Die EU sei heute in mehrfacher Hinsicht bedroht, warnte Macron: militärisch durch Russland, wirtschaftlich durch die USA und China – und kulturell durch die Attacken auf die liberale Demokratie.

Daher sein Weckruf: Die EU könne nur "überleben", wenn sie selber zu einer "Großmacht" werde, im französischen Original "puissance". Und zwar zu einer, "die sich Respekt zu verschaffen vermag".

Die Grundbedingung dafür ist laut dem französischen Staatschef, dass Russland den Aggressionskrieg gegen die Ukraine nicht gewinne. Zumal das Kreml-Regime auch einen "hybriden Krieg" gegen den Westen führe. Deshalb will Macron eine "europäische Verteidigungsinitiative" lancieren, um die Rüstungsproduktion und die militärische Strategie besser zu bündeln oder gar zu vereinheitlichen.

Kontroverse Waffenproduktion

Umstrittener sind, wie so oft bei Macrons hehren Worten, die konkreten Details: Der französische Präsident schlägt einen "europäischen Vorrang" bei der Produktion von Luftabwehrraketen und Marschflugkörpern vor. Beides dürfte in Berlin auf wenig Wohlgefallen stoßen: Das Skyshield-Projekt des deutschen Kanzlers Olaf Scholz stützt sich auf US-amerikanische und israelische – also nicht europäische – Produkte, während Frankreich wie auch Italien ein eigenes Abwehrsystem anbieten. Das Thema Marschflugkörper ist zudem sehr heikel, da Scholz die deutschen Taurus-Raketen nicht an die Ukraine liefern will, während Frankreich ähnliche – und sehr effiziente – Geschosse des Typs Scalp bereits an Kiew geliefert hat.

Zur vieldiskutierten Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine hält Macron Kurs: "Ich stehe dazu, die strategische Ambivalenz zu wahren", dem Gegner also nicht in die Karten blicken zu lassen. Auch die französische Atombombe bleibt für ihn ein europaweites Thema, auch wenn Scholz oder andere EU-Politiker kaum darauf eingegangen sind: "Die Nuklearabschreckung ist in ihrer Substanz ein Mittel zur Verteidigung des Kontinents."

Zur Stärkung der EU-Schlagkraft plädiert Macron zudem für die Bildung einer 5000-köpfigen europäischen Einsatztruppe bis 2025 sowie einer europäischen Militärakademie. Auffällig ist, dass der Franzose auch Großbritannien in die gemeinsame Verteidigungspolitik einbezieht.

Eine Großmacht müsse Europa aber auch in ökonomischer Hinsicht bleiben, findet Macron. Die USA schützen ihre Wirtschaft mit dem sogenannten Inflation Reduction Act, und China subventioniere ganze Branchen wie die Elektroautos. Die EU müsse dagegen ihr eigenes, klimaneutrales Modell schaffen – und dabei auch auf die Nuklearenergie setzen.

"Kein Vasall der USA werden"

Macron schlägt auch einen neuen "Wohlstandspakt" vor, der die EU zu einer Großmacht bei Themen wie Wasserstoff oder Batterien machen soll und die Unabhängigkeit bei strategischen Produkten wie Halbleitern oder Medikamenten schaffe. Nur so könne Europa gegenüber den großen Wirtschaftsmächten bestehen – und "kein Vasall der USA werden".

Eins kann man Macron nicht absprechen: Seine Liebe zu "Europe", wie er die EU nur nennt, mündete in ein flammendes Bekenntnis zu den humanistischen Werten der europäischen Demokratien. Dass sein Auftritt zugleich biedere wahlpolitische Akzente barg, ist für den 46-jährigen Franzosen kein Widerspruch. Anderthalb Monate vor den Europawahlen verlangte er für die französischen Landwirte offen eine "Stärkung" der gemeinsamen Agrarpolitik, das heißt mehr Hilfsgelder.

In ersten Reaktionen in Paris fragten denn auch einzelne Kommentatoren, ob sie den Diskurs eines europäischen Staatsmannes gehört hätten – oder den eines Wahlkampfchefs. Der Grüne Daniel Cohn-Bendit lobte dagegen einen "klaren und luziden" Auftritt, der die humanistischen Werte ebenso hoch hänge wie die Notwendigkeit einer beschleunigten Rüstungsproduktion. Alles in allem klang Macrons zweite Sorbonne-Rede oft sehr treffend, aber auch ausschweifender und von mehr Allgemeinplätzen durchsetzt als die erste. Die Wiederholung kommt eben selten an die Pioniertat heran. (Stefan Brändle aus Paris, 25.4.2024)