Geld auf einer Hand
Jeden Euro zweimal umdrehen: Die Zahl der Menschen in Armut liegt so hoch wie in den vergangenen fünf Jahren nicht.
IMAGO/Michael Bihlmayer

Es wirkt, als gäbe es in Österreich zwei Realitäten: Dreht sich die Debatte um die Auswirkungen der Teuerungskrise, klaffen die Einschätzungen weit auseinander. Oppositionspolitiker zeichnen mitunter ein Bild weit ausgreifender Not. Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) hingegen stellte unlängst fest: Die Zahl der armutsgefährdeten Menschen sei weitgehend stabil geblieben.

Die Statistik Austria unterfüttert die Diskussion nun mit neuen Zahlen. Die jährlich durchgeführte EU-Silc-Erhebung kombiniert Einkommensdaten mit aufwendigen Befragungen von rund 6000 heimischen Haushalten. Im aktuellen Fall fanden diese von März bis August 2023 statt. Sie umfassen also eine Phase, als die Preise bereits massiv emporgeklettert waren.

Die Ergebnisse sind nicht erfreulich: Im Vergleich zu 2022 ist die Zahl der Menschen in absoluter Armutslage, wie die Statistik Austria schreibt, um mehr als 50 Prozent von 201.000 auf 336.000 gestiegen. Gemessen an der Bevölkerung macht das einen Zuwachs von 2,3 auf 3,7 Prozent. So hoch lag der Wert auch in den vergangenen fünf Jahren nie.

Kinder und Jugendliche befinden sich demnach deutlich häufiger unter den Leidtragenden als Ältere. Bei den unter 18-Jährigen beträgt die Quote 5,3 Prozent, was 88.000 Personen entspricht – das ist mehr als eine Verdoppelung gegenüber dem Jahr davor. Menschen über 65 waren hingegen nur zu 1,9 Prozent von Armut betroffen.

Auch Frauen sind überproportional von Armut betroffen, das gilt besonders für Alleinerziehende. Von den Einelternhaushalten befinden sich gleich 15,3 Prozent in sozialer Notlage. Eine andere Risikogruppe sind Familien mit drei oder mehr Kindern: Hier beträgt die Quote 8,5 Prozent.

Massiv gestiegen sind die finanziellen Probleme in der Gruppe der Menschen ohne Job: Hatten 2022 noch 16 Prozent der ganzjährig Arbeitslosen Armut erlebt, so waren es 2023 bereits 28. Wer nach möglichen Gründen sucht: Auf Betreiben der ÖVP werden Arbeitslosengeld und Notstandshilfe im Gegensatz zur Sozialhilfe oder Familienbeihilfe nicht jährlich mit der Inflation erhöht.

Drückendes Wohnproblem

Nicht überraschend sind die Ergebnisse für Martin Schenk, Sprecher der Armutskonferenz. Trotz aller unbestreitbarer Hilfen der Regierung, um die Einkommen zu steigern, habe sich abgezeichnet, dass es sich 2023 für immer mehr Menschen nicht mehr ausgehen werde. Vor allem die Wohnkosten machten vielen zu schaffen: 30 Prozent empfinden diese als starke Belastung, ein Jahr davor waren es nur 13 Prozent.

Die gute Nachricht sei, dass der Sozialstaat nach wie vor viel kompensiere, fügt Schenk an. Er bleibt auch bei seiner Einschätzung, dass die Regierung aus ÖVP und Grünen einen großen sozialen Absturz verhindert habe – bei 3,7 Prozent an erheblich Benachteiligten könne man nicht von Massenarmut sprechen.

Doch es zeige sich eben auch, dass die Teuerung strukturelle Mängel verschärfe, die schon bisher bestanden hätten. Wer Familien mit Kindern besser vor Armut schützen wolle, müsse die von Schwarz-Blau durchlöcherte Sozialhilfe wieder auf Vordermann bringen, fordert Schenk. Alleinerzieherinnen wiederum bräuchten nicht nur einen Ausbau der Kinderbetreuung, sondern auch die angekündigte Verbesserung des Unterhaltsvorschusses für Fälle, in denen der Vater für die gemeinsamen Kinder nicht verlässlich zahlt.

Schenk ist nicht der Einzige, der nach eine Reparatur der Sozialhilfe, vormals Mindestsicherung, ruft. Hilfsorganisationen wie die Caritas und die Diakonie tun das ebenso wie Christoph Badelt, Chef des Fiskalrats. Der Rückbau zu einem System mit Höchstgrenzen bei den Leistungen sei "ein sozialpolitischer Fehler" gewesen, urteilt der Wirtschaftsforscher: Damit seien die Möglichkeiten verlorengegangen, Menschen gezielt nach jeweiliger Notlage zu helfen.

Die Zahlen der Statistik Austria legten nahe, dass es gerade an dieser individuellen Unterstützung gehapert habe, sagt Badelt. Mit allgemeinen Zahlungen sei es für den Staat schwierig, allen Bedürftigen in jeder speziellen Situation aus der Patsche zu helfen. Der aktuellen Regierung wolle er angesichts der großen Hilfspakete gar keinen Vorwurf machen: "In den Armutszahlen zeigt sich die Dramatik der Krise. Der Anstieg an sich kommt nicht überraschend, das Ausmaß aber schon."

Schande und Skandal

Die oppositionelle FPÖ urteilt naturgemäß weniger gnädig. Eine "Schande" sieht Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch in der sozialen Lage – und einen Beweis, dass die "Elendsverbreiter" von ÖVP und Grünen nur eine "Scheinregierung" ohne Daseinsberechtigung stellten. Allerdings zeigen die Daten auch: Nach dem Abgang der türkis-blauen Regierung war die Armutsquote erst einmal markant gesunken, ehe dann die Inflationskrise ins Land zog.

Sozialminister Rauch verweist in einer Stellungnahme auf die "multiplen Krisen" und die "entschlossene" Reaktion der Regierung, ohne auf etwaige Lücken in den Hilfspaketen einzugehen. Lieber blickt der Grünen-Politiker in die Zukunft. Abgesehen von einem Neustart der Mindestsicherung propagiert er sein Ziel einer Kindergrundsicherung, womit er bei Hilfsorganisationen wie der Volkshilfe offene Türen einrennt. Als "Skandal" bezeichnet Direktor Erich Fenninger das Ausmaß der Kinderarmut.

Doch der Forderungskatalog der Kritiker reicht darüber hinaus. Die Caritas ruft danach, die Mindestpension und damit auch die Sozialhilfe auf das Niveau der Armutsgefährdungsschwelle anzuheben. Diese liegt nun bei 1572 Euro pro Monat für einen Einpersonenhaushalt, das sind 60 Prozent des Medianeinkommens (die eine Hälfte der Bevölkerung hat mehr, die andere hat weniger.)

Gut im EU-Vergleich

Die Statistik Austria legt in ihren jährlichen Erhebungen auch diesen Maßstab an. Im Gegensatz zum Niveau der absoluten Armut ist der Anteil der Armutsgefährdeten mit nunmehr 14,9 Prozent aber praktisch stabil geblieben. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Daten mit Vorsicht zu bewerten (siehe Infokasten unten). Keine signifikante Veränderung gab es auch bei der Zahl der Haushalte mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität (5,7 Prozent), einem anderen Risikofaktor für Armut.

Eine erfreuliche Erkenntnis zum Schluss: Im EU-Vergleich liegt Österreich in Sachen Armut seit 20 Jahren deutlich unter dem Durchschnitt – und zwar im besten Drittel. (Gerald John, 25.4.2024)

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