Der Paragraf 218 im deutschen Strafgesetzbuch.
Der Paragraf 218 im deutschen Strafgesetzbuch wurde nun von einer Ethikkommission unter die Lupe genommen.
IMAGO/epd

Das muss man sich mal vorstellen: Eine Regierung setzt eine Kommission ein, die eine mögliche Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen überprüfen soll. Das Ergebnis ist eindeutig: Abtreibung in den ersten Schwangerschaftswochen sollte entkriminalisiert werden. Abbrüche müssen einfach, zeitnah und barrierefrei in Anspruch genommen werden können. Eine grundsätzliche Rechtswidrigkeit ist nicht haltbar. Und ja, es macht einen Unterschied für die Betroffenen, ob Abbrüche straffrei oder legal sind. Darüber hinaus empfiehlt die Kommission, Spätabtreibungen außer in zwei schwerwiegenden Ausnahmefällen (Gesundheitsgefährdung, Vergewaltigung) nicht zu legalisieren.

Was darauf folgt, ist nichts anderes als Arbeitsverweigerung von Volksvertreter:innen, die sich dafür haben wählen lassen, politische Verantwortung zu übernehmen, und sie jetzt auf einmal nicht mehr wollen. Ist ja auch alles anstrengend und schwierig. Das sei ja auch ein "ganz sensibles" Thema, und Debatten, die die Gesellschaft "in Flammen setzen oder gar spalten", könne man jetzt gar nicht gebrauchen. Nur nicht "unter Zeitdruck" geraten, denn am Ende brauche es einen "gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens". Ja, genau! Nach über 150 Jahren Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nur nicht hektisch werden. Nachher geht das noch zu schnell. Auch der Oppositionsführer Friedrich Merz warnt vor einem „gesellschaftlichen Großkonflikt".

Nicht erst seit gestern

Angesichts der bereits in Kraft getretenen Teillegalisierung von Cannabis möchte man fragen, ob die Damen und Herren irgendwas geraucht haben. Denn das stimmt so ganz und gar nicht. Womit wir bei den Details wären: Mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung halten die Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen für falsch. Knapp 80 Prozent finden es richtig, dass Frankreich das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung aufgenommen hat. Über 86 Prozent halten es für wichtig, dass Mediziner:innen offen kommunizieren können, dass sie Abbrüche vornehmen. Die Mehrheit ist für eine Entkriminalisierung. Das schließt sowohl die Wähler:innen der christlichen Unionsparteien ein (über 70 Prozent) als auch ganz allgemein Menschen prostestantischen (69 Prozent) und katholischen Glaubens (60 Prozent). Und das ist auch nicht erst seit gestern so.

Darüber hinaus gibt es seit geraumer Zeit in den meisten europäischen Ländern eine Mehrheit für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch in Ungarn und Polen. Die höchsten Abtreibungsraten gibt es in Ländern, die Abbrüche kriminalisieren. Die Zahlen sinken, wenn Abbrüche legalisiert werden.

Nicht Abtreibungen, sondern Abtreibungsrestriktionen sind eine deutliche Gefahr für die mentale Gesundheit von Frauen. Von Leuten, die sich politisch mit dem Thema beschäftigen, sollte man erwarten können, dass sie die entsprechenden Fakten zur Kenntnis nehmen.

Verweis auf "die anderen"

Damit wir uns nicht missverstehen: Selbstverständlich sind Abgeordnete frei und nur ihrem Gewissen verpflichtet. Wenn eine Person aus Gewissensgründen gegen die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist, mag mir das womöglich missfallen, es ist aber ihr gutes Recht. Was ich davon halte, kann ich ja dann bei der nächsten Wahl schriftlich mitteilen. Aber dieses Zurechtlügen von gesellschaftlichen Stimmungen und Konflikten, dieser lächerliche Verweis auf "die anderen" und "viele sagen, dass" ist ein nicht hinnehmbarer Versuch der Arbeitsverweigerung, weil man sich irgendwie unwohl bei der Ausübung politischer Verantwortung fühlt, für die man üppig bezahlt wird.

Ganz ehrlich: Es ist mir komplett egal, ob du dich unwohl fühlst, mach deine Arbeit! Das ist nämlich nicht das erste Mal. Als es 2017 in Deutschland um die "Ehe für alle" ging, hat sich der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer vor laufenden Kameras nicht entblödet, eine übereilte Debatte und ein unwürdiges Verfahren zu bejammern. Es gäbe noch viel zu viel zu besprechen.

Ehe für alle: Statement von Michael Kretschmer am 30.06.17
"Das war eine Gegenstimme zu diesem Schauspiel was wir jetzt gerade erleben" - Michael Kretschmer (CDU) im Gespräch mit Erhard Scherfer zum Beschluss bei der "Ehe für alle".
phoenix

Faktisch wollten er und seine Partei aber jahrelang nicht reden, haben Gerichtsurteile und Debatten ignoriert, nur um sich am Ende darüber zu beschweren, wie das jetzt alles so plötzlich aus den Nichts kommen konnte. Ähnliches gilt für die Sterbehilfe. Anfang 2020 hat das Bundeverfassungsgericht festgehalten, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt und dieses Recht sowohl die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen, als auch die Freiheit, dafür bei Dritten Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das bestehende "Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" ist demnach verfassungswidrig.

Übersetzt heißt das nichts anderes als: "Hey, Legislative, so geht es nicht weiter. Das ist ein unhaltbarer Zustand, mach endlich ein vernünftiges Gesetz dazu und zwar zügig!" Passiert ist wenig bis gar nichts. Ein paar Gesetzesentwürfe, die komplett folgenlos geblieben sind.

Debattenabstinenz

Alles geht weiter wie bisher. Die Betroffenen werden in ihrer Verunsicherung und ihrem Leid allein gelassen. Arbeitsverweigerung der Verantwortlichen vor dem Hintergrund judikativer Klarheit und breiter gesellschaftlicher Zustimmung zur Legalisierung aktiver Sterbehilfe, weil "mir nicht ganz wohl dabei ist" wegen angeblicher gesellschaftlicher Brisanz.

Also dann noch einmal, damit es auch die auf den hinteren Parlamentsbänken hören: Debattenabstinenz und Arbeitsverweigerung sind keine legitimen Mittel politischer Verantwortlichkeit. Wer sich die Finger in die Ohren steckt dabei und "Lalala!" brüllt, hat kein Recht, sich über fehlende Diskussionen zu beschweren. Und wer sich vor politischer Verantwortung drücken will, der sollte sich gar nicht erst zur Wahl stellen.

Ansonsten macht endlich euren verdammten Job! (Nils Pickert, 24.4.2024)