SKN-Trainerin Liese Brancaostammt aus Novo Hamburgo. Sie beschäftigt sich "viel mit Pep Guardiola und Jürgen Klopp, ihren taktischen Konzepten und ihrer Spielauffassung".
Daniel Shaked, ballesterer

Liese Brancao kommt zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin mit dem ballesterer in die Geschäftsstelle des SKN Sankt Pölten. "Ich bin gerne pünktlich", sagt die Trainerin der Serienmeisterinnen. "Wenn hier ein Spiel um 13.45 Uhr angesetzt ist, wird es auch um 13.45 Uhr angepfiffen, das ist in Brasilien nicht immer der Fall." Seit 2016 arbeitet Brancao in Sankt Pölten, wo auch die Akademie des ÖFB angesiedelt ist. Hier wird unter der Woche der weibliche Nachwuchs fußballerisch und schulisch ausgebildet, am Wochenende sind die Spielerinnen bei ihren Vereinen, allerdings selten beim SKN. "Wir haben derzeit nur eine Akademiespielerin", sagt Brancao beim Gespräch Mitte März. Ihr Klub verfolgt eine andere Strategie als die meisten Bundesligisten.

ballesterer: Die Meisterschaft ist spannender geworden. Schwächelt Sankt Pölten, oder haben die gegnerischen Teams aufgeholt?

Brancao: Das hat sich schon in der letzten Saison abgezeichnet. Wir haben damals einige sehr enge Spiele gehabt, man merkt ganz einfach, dass das Niveau kontinuierlich steigt. Altach, Sturm, die Vienna und die Austria haben wirklich tolle Arbeit geleistet, das bringt uns alle vorwärts.

ballesterer: Wie blicken Sie auf die Gruppenphase der Champions League zurück? Sankt Pölten hat in den sechs Spielen nur einen Punkt geholt.

Brancao: Die Gruppe mit Olympique Lyon und der Terminplan mit drei Spielen in der Winterpause im Jänner sind zwei Gründe dafür, aber es ist vor allem ein mentales Problem gewesen. Einige unserer besten Spielerinnen haben uns zu Saisonbeginn verlassen, das aktuelle Team hat bislang wenig internationale Erfahrung. Die Spiele in Prag und Bergen waren sehr eng, da sehe ich uns auf Augenhöhe. Es war aber keine Katastrophe, sondern eine wichtige Lektion für uns.

ballesterer: Ihr Team hat mit rund 50 Prozent den höchsten Anteil an Legionärinnen in der Liga, dabei ist die Akademie ja gleich nebenan. Warum holen Sie nicht mehr heimische Talente?

Brancao: Die meisten Akademieabsolventinnen wollen sofort ins Ausland, vor allem in die deutsche Bundesliga. Das ist schade, denn mit ein, zwei Saisonen in Österreich könnten sie Spielpraxis im Erwachsenenfußball sammeln und persönlich reifen. So finden sich viele in Deutschland auf der Ersatzbank wieder. Unsere ausländischen Spielerinnen kommen vor allem aus den Nachbarländern, sie haben hier bessere Bedingungen als in ihrer Heimat. Und wir können mit ihnen leichter über mehrere Saisonen hinweg planen. Oft kommen ausländische Spielerinnen ja erst zum Zug, wenn es keine vergleichbare heimische Konkurrenz gibt. Aber Mateja Zver beispielsweise ist auch mit 36 noch eine absolute Topspielerin, auf ihrer Position finde ich in Österreich niemanden von vergleichbarer Qualität.

ballesterer: Wie weit ist die Professionalisierung gediehen? Können Ihre Spielerinnen ausschließlich vom Sport leben?

Brancao: Wir sind auf dem Weg, aber ich glaube nicht, dass wir eine volle Professionalisierung erreichen werden. Viele Spielerinnen denken zuerst an ihre persönliche Zukunft und dann an ihre sportliche Karriere. Das ist verständlich, denn sie können mit dem Fußball nicht die Zeit nach der Karriere finanzieren – oft reicht es nicht einmal für ihren derzeitigen Lebensunterhalt. Viele unserer Spielerinnen studieren, ein paar arbeiten regulär. Nur fünf, wenn ich jetzt richtig zähle, leben ausschließlich vom Fußball. Reich wird keine von ihnen, aber dennoch gibt es das bei den anderen Vereinen nicht. Und auch wir gehen Kompromisse ein und setzen die Trainings zum Beispiel erst am Abend an, damit es für alle passt.

ballesterer: Wie war das, als Sie vor 20 Jahren als Spielerin nach Österreich gekommen sind?

Brancao: Der damalige Neulengbach-Obmann Bruno Mangl war bei der WM 2003 in den USA, um eine offensive Mittelfeldspielerin zu engagieren. Meine Teamkollegin Rosana war die Ideallösung, er hat den Transfer für den Sommer 2004 ausgemacht. Gleichzeitig war er auf der Suche nach einem Sechser – und Rosana hat mich empfohlen. Anfang 2004 ist er mit einem Vertrag auf Deutsch und Englisch nach Brasilien gekommen, mein Trainer bei Internacional Porto Alegre hat ihn vertrauenswürdig gefunden, und ich wollte unbedingt nach Europa. Der finanzielle Aspekt war wichtig, auch wenn die Summen heute gering erscheinen. Ich habe in Porto Alegre damals umgerechnet 80 Euro monatlich bekommen, Mangl hat mir ein Au-Pair-Visum, eine Wohnung und 600 Euro angeboten. Vom Geld habe ich den Großteil nach Hause geschickt.

ballesterer: Der Anfang ist aber etwas holprig verlaufen.

Brancao: Ja, bei der Einreise nach Europa sind in Lissabon meine Dokumente lange geprüft worden, die Polizei hat mich verhört. Ich habe den Anschlussflug verpasst und konnte erst am nächsten Tag weiterfliegen, meine Mutter hat sich Sorgen gemacht, weil ich sie nicht kontaktieren konnte. Sie hat schon vor meiner Abreise befürchtet, dass sie mich nie wiedersehen würde. Auch beim ersten Spiel in Neulengbach hat es ein kleines Problem gegeben. Das war das Supercupfinale, und niemand hatte mir gesagt, dass es nicht nach 90 Minuten endet, sondern es in die Verlängerung und ins Elfmeterschießen geht. Ich habe mich über die Spielregeln gewundert. Für mich ist es wesentlich einfacher geworden, als Rosana im September nachgekommen ist.

Brancao: "Ich lerne immer noch, ich bin zum Beispiel früher ungeduldiger gewesen."
Daniel Shaked, ballesterer

ballesterer: Neulengbach hat mit Ihnen Titel in Serie gewonnen. Wie groß war Ihr Beitrag?

Brancao: Rosana hat alle mitgerissen. Sie ist für mich die beste Fußballerin, die je in Österreich gespielt hat. Ich war bei Weitem nicht so talentiert, ich habe mir alles hart erarbeitet. Es waren schöne Zeiten, aber ich wollte wieder näher bei meiner Familie sein und bin 2012 nach Sao Paulo zurückgekehrt. Die Bedingungen waren aber nicht so wie erhofft, also bin ich zu Landhaus gegangen. Dann ist meine bei Fußballerinnen so typische Kreuzbandverletzung gekommen. Ich habe meine aktive Karriere beendet und als Co-Trainerin in Neulengbach begonnen.

ballesterer: Wie würden Sie Ihren Stil als Trainerin beschreiben?

Brancao: Ich lerne immer noch, ich bin zum Beispiel früher ungeduldiger gewesen. Mit einigen meiner Spielerinnen bin ich noch am Platz gestanden, jetzt kommt die nächste Generation. Ich versuche, allen meine Werte vom glücklichen und organisierten Fußball nahezubringen, das bedeutet ein sehr ernsthaftes Training, wo ich auch laut werden kann, aber großen Spaß im Spiel. Mein Stil ist eine Mischung der Kulturen. Aus Österreich nehme ich die Organisation, aus meiner Heimat die Freude am Spiel. Im Endeffekt geht es aber darum, Menschen zu entwickeln.

ballesterer: Haben Sie Vorbilder?

Brancao: Ich beschäftige mich viel mit Pep Guardiola und Jürgen Klopp, ihren taktischen Konzepten und ihrer Spielauffassung. Überhaupt fasziniert mich der Fußball in England, ich möchte gern im Rahmen meiner Uefa-Pro-Lizenz-Ausbildung, die im Sommer beginnt, dort hospitieren.

ballesterer: In dem Kurs sind Sie die einzige Frau aus den österreichischen Ligen, in der Bundesliga sind Sie die einzige Trainerin. Woran liegt das?

Brancao: Zum einen interessieren sich wenige Frauen für die Karriere als Trainerin. Zum anderen lassen es viele, die interessiert gewesen wären, bleiben, weil sie wissen, dass sie gegen einen männlichen Mitbewerber keine Chance haben. Die Situation ändert sich erfreulicherweise. Ich bin überzeugt, dass wir in drei, vier Jahren mehrere Trainerinnen in der Liga sehen werden.

ballesterer: Wie könnte der Fußball der Frauen einen höheren Stellenwert bekommen?

Brancao: Österreich ist kein klassisches Fußballland, und wenn man über Fußball spricht, dann dreht es sich fast immer um die Männer. Es würde helfen, wenn alle Männer-Bundesligisten eine hochklassige Frauensektion hätten. Die Vorteile mit Blick auf Infrastruktur und Fans sind enorm. Medial hat sich ja einiges getan in den letzten Jahren, wir sind jetzt viel präsenter. Die Übertragung der Spiele im ORF ist ein Booster. Ich habe jetzt in kurzer Zeit mehr Interviewanfragen gehabt als in vielen Jahren davor.

ballesterer: Beim Blick auf das Trikot Ihres Teams fällt der Streifen im Regenbogenmuster ins Auge. Was ist da der Hintergrund?

Brancao: Das ist ein Verdienst unseres Präsidenten Wilfried Schmaus. Er ist sehr aufgeschlossen und war der Erste, der über Gleichstellung des Sports von Frauen gesprochen hat. Bei ihm gibt es keine Diskriminierung bezüglich Herkunft und sexueller Orientierung, das ist ihm ein Anliegen.

ballesterer: Ein offener Umgang mit Homosexualität ist bei Frauenteams deutlich üblicher als bei den Männern. Woran liegt das?

Brancao: Das ist ein großer Vorteil, den wir uns erkämpft haben, niemand braucht sich mehr verstecken. Die Diskrepanz ist wirklich auffällig, da dürften noch die alten Männlichkeitsvorstellungen und die Angst, als unmännlich zu gelten, eine Rolle spielen.

ballesterer: Wenn man die sozialen Aktivitäten von Spitzenspielerinnen mit denen ihrer männlichen Kollegen vergleicht, könnte man meinen, sie wären einfach bessere Menschen. Glauben Sie das?

Brancao: Das würde ich überhaupt nicht so sehen. Auch die Topspielerinnen bewegen sich finanziell längst nicht auf demselben Niveau wie Spieler in den großen Männerligen. Da ist man unabhängig vom Geschlecht noch geerdeter. Dazu kommen kulturelle Unterschiede. Wer aus Brasilien stammt, egal ob Bursche oder Mädel, hat die Familie in der Heimat, die es zu unterstützen gilt. Diese Frage stellt sich hierzulande meist gar nicht. Dann tritt eben oft ein Interesse für materielle Dinge an die erste Stelle. Deswegen ist aber niemand ein schlechterer Mensch. Und im Übrigen haben auch meine Spielerinnen das gute Recht, sich in ihrer Freizeit zu amüsieren.

ballesterer: Haben Sie Erfahrungen mit Sexismus im Fußball gemacht?

Brancao: Ich erinnere mich gut an die Staatsmeisterschaft in Sao Paulo 2001, das war damals der wichtigste Bewerb in Brasilien. Die Verbandsfunktionäre haben uns gezwungen, in Shorts wie beim Beachvolleyball aufzulaufen, Spielerinnen mit kurzen Haaren sind nicht zugelassen worden. Mit sportlichen Erwägungen hat das nichts zu tun gehabt.

ballesterer: Mit der Uefa-Pro-Lizenz könnten Sie auch Nationalteams trainieren. Reizt Sie das? Vielleicht auch in Österreich?

Brancao: Irene Fuhrmann ist eine ausgezeichnete Trainerin, und ich wünsche ihr noch viele Jahre auf dieser Position. Sollte die Stelle einmal vakant werden und Peter Schöttel bei mir anklopfen, würde ich mich der Aufgabe sicherlich mit Begeisterung stellen. Andererseits habe ich jetzt in jeder Saison einen Titel gewonnen, es würde mich schon sehr reizen, einmal ein Außenseiterteam zu trainieren und dort Entwicklungsarbeit zu leisten. Aber das ist alles Theorie. Ich habe hier in Sankt Pölten einen Vertrag bis Juli 2026, und den möchte ich mit vollem Engagement erfüllen. (Robert Florencio, 6.5.2024)

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