1752 stieß man in den verschütteten Überresten der antiken Stadt Herculaneum nahe Neapel auf einen ungeheuerlichen Schatz. Das römische Städtchen war wie die größere Schwester Pompeji dem Vesuvausbruch von 79 nach Christus zum Opfer gefallen und für Jahrhunderte unter einer meterhohen Lavaschicht verschwunden. In Asche konserviert lagen dort unter den Trümmern einer opulenten römischen Landvilla hunderte verkohlte Papyrusrollen, eine ganze Bibliothek brüchiger, unlesbarer antiker Schriften.

Mittlerweile weiß man, dass der Besitzer des Landguts, heute bekannt als Villa dei Papiri, aus dem familiären Umfeld von Julius Cäsar kam: Lucius Calpurnius Piso Caesonius, ein römischer Politiker und Schwiegervater Cäsars, war eine Art Mäzen des griechischen Philosophen Philodemus von Gadara und ließ diesen in seiner Villa arbeiten. Dessen vermutlich über 1000 Werke umfassende Bibliothek hatte der Philosoph eigens aus Griechenland mitgebracht. Die Sammlung ist damit die einzige erhaltene vollständige Bibliothek der klassischen Welt, über Jahrzehnte bis zur Vesuvkatastrophe in einer hochrangigen Familie weitervererbt.

Fragmente aus der Blibliothek von Philodemus von Gadara aus Herculaneum
Die verkohlten Fragmente aus der Bibliothek von Philodemus von Gadara aus Herculaneum dürften noch viele Überraschungen bereithalten.
Foto: D.P. Pavone/ CNR-Institute of Culturale Heritage/Biblioteca Nazionale di Napoli

Unzugänglicher Wissensschatz

Umso größer war die Verzweiflung der Historikerinnen und Historiker: Man hatte einen Teil des Wissens der Antiken vor der Nase, doch die verkohlten Werke können ihren Inhalt nicht preisgeben. Etwa zwei Drittel der Schriftrollen sind seit ihrer Entdeckung entrollt worden, viele davon sind beim Versuch in Fragmente zerfallen. Rund 5000 dieser Bruchstücke befinden sich gerahmt in Neapel in der Biblioteca Nazionale. Entziffern konnte man sie dennoch lange Zeit nicht. Viele unbekannte Schriften, womöglich direkt von der Hand antiker Autoren und Philosophen, blieben damit unzugänglich.

Doch mit moderner Technik und menschlichem Erfindungsreichtum ist es inzwischen gelungen, das Tor in die antike Geisteswelt aufzustoßen - oder zumindest ein kleines Fenster: Im vergangenen Jahr konnten mithilfe besonders energiereicher Röntgenstrahlen Scans von einigen Rollen und Bruchstücken angefertigt werden, auf denen die verwendete antike Tinte auf Kohlenstoffbasis deutlicher hervortritt. Um in dem Zeichen-Durcheinander auf den einander überlagernden Schichten Sinn zu entdeckten, kam Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz.

verbogene, verkohlte Papyrusrolle
Die verbogenen, verkohlten Papyrusrollen geben nun langsam ihre Geheimnisse preis.
Foto: Vesuvius Challenge

Violette Farbe

Einem Projekt namens Vesuvius Challenge ist es zu verdanken, dass die ersten Worte der Bibliothek von Herculaneum im Vorjahr entziffert werden konnte. So gelang es dem 21-jährigen Informatikstudenten Luke Farritor auf Basis der Scans zunächst das Wort "πορφυρας" auf einer Schriftrolle zu entschlüsseln. Es bedeutet "violetter Farbstoff", könnte aber auch für "violette Tücher" stehen. Farritor wurde für diesen Erfolg mit einem Preis gewürdigt.

Die Entzifferung weiterer Passagen und Textfragmente der gescannten Papyri folgte rasch: Die ersten rund 2000 griechischen Buchstaben, aufgeteilt auf 15 Spalten, entpuppten sich als eigenes Werk von Philodemus von Gadara. In seinem Text geht es um Lustgewinn und Mangel, den Geschmack von Kapern, das bewegende Flötenspiel eines gewissen Xenophantus (der schon Alexander den Großen in Unruhe versetzt haben soll) und um Kritik an den vergnügungsfernen Stoikern.

Die Passagen sind ohne Zweifel außergewöhnlich, doch inzwischen liegen weitere Übersetzungen gescannter Abschnitte von entrollten Fragmenten aus der Biblioteca Nazionale di Napoli auf dem Tisch – und diese könnten sich als regelrechte Sensation entpuppen: In den neu entzifferten Absätzen lässt sich Philodemus von Gadara unter anderem zu Einzelheiten über das verschollene Grab des berühmten Philosophen Plato aus.

Fragmente aus der Bibliothek von Herculaneum
Unter anderem verrieten die antiken Schriften nun den genauen Begräbnisort des Philosophen Plato.
Foto: D.P. Pavone/ CNR-Institute of Culturale Heritage/Biblioteca Nazionale di Napoli

Neue Übersetzungen

Mittlerweile ist klar, dass es sich bei dem Text um einen Band von Philodemus' Werk "Geschichte der Akademie" handelt, eine seiner philosophiehistorischen Schriften. Philodemus von Gadara war ein epikureischer Philosoph, der in seiner "Geschichte der Akademie" auch Informationen über das Leben von Plato und die von ihm im frühen vierten Jahrhundert v. Chr. in Athen gegründete Akademie festhält.

Die Analyse eines weiteren Abschnitts von Philodemus' Text enthüllte nun noch einmal Text im Umfang von rund 1000 Wörtern des verkohlten Papyrus'. Damit könnten bereits etwa 30 Prozent des gesamten Textes entschlüsselt sein, freut sich Projektkoordinator Graziano Ranocchia von der Universität von Pisa. Dass in diesen Zeilen womöglich Platos letzte Ruhestätte verraten wird, sei ein besonderes Highlight.

Platos Grab enthüllt?

Bisher war zwar bekannt gewesen, dass Plato auf dem Gelände der Akademie begraben wurde, wo genau, das blieb jedoch ein Rätsel. 86 v. Chr. war das Areal vom römischen Diktator Sulla zerstört worden, wo also suchen? Laut der veröffentlichten neuen Ergebnisse könnte der Begräbnisplatz Platos nun jedoch eingegrenzt werden. Dem übersetzten Text gemäß soll der antike griechische Philosoph seine letzte Ruhestätte in einem privaten Garten in der Nähe eines den Musen geweihten Schreins, dem Museion, gefunden haben.

Text aus einem Dokument der Bibliothek von Herculaneum
Leicht sind die in griechischer Sprache verfassten Zeilen nicht zu entziffern, aber sie enthalten unschätzbare neue Erkenntnisse.
Foto: D.P. Pavone/ CNR-Institute of Culturale Heritage/Biblioteca Nazionale di Napoli

Weitere Abschnitte in dem Dokument verraten andere Details aus Platos Leben: Demnach soll er auf der Insel Ägina in die Sklaverei verkauft worden sein, möglicherweise nach der Invasion Spartas von 404 v. Chr., oder nach dem Tod von Sokrates im Jahr 399 v. Chr. Allein diese Textfragmente haben das Potenzial, frühere Annahmen über den Haufen zu werfen. Die neuen Passagen stellen nämlich die vorherrschende Auffassung infrage, dass Platos kurzes Dasein als Sklave erst 387 v. Chr. am Hof von Dionysius I. von Syrakus auf der Insel Sizilien begann.

An anderer Stelle zitiert dort Philodemus Plato direkt und bringt dessen Verachtung für die musikalischen Fähigkeiten eines barbarischen Künstlers aus Thrakien zum Ausdruck. Insgesamt verrücken die neuen Erkenntnisse bereits jetzt so manche vermeintliche Gewissheit über das Werk von Philodemus von Gadara. "Im Vergleich zu früheren Ausgaben liegt nun ein fast radikal veränderter Text vor, der eine Reihe neuer und konkreter Fakten über verschiedene akademische Philosophen impliziert", meinte Ranocchia.

Noch viel zu entdecken

"Einige frühere Passagen wurden ersetzt, andere zuvor fragmentarische Abschnitte konnten integriert oder neu interpretiert werden", ergänzte Kilian Fleischer von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Dabei seien vor allem zahlreiche handschriftliche Anmerkungen und Änderungsvorschläge von Philodemus hilfreich. "Der Papyrus gewährt uns wertvolle Einblicke in den Entstehungsprozess eines antiken Buches und in die Arbeitsweise antiker Autoren", sagte Fleischer. Sogar ein Vergleich mit der Endfassung ist möglich – zumindest mit den wenigen Überresten, die davon erhalten geblieben sind.

Die Arbeit wird den Forschenden jedenfalls in den nächsten Jahren nicht ausgehen. Von den weit über 1000 Papyrusrollen, die man in der Villa dei Papiri in Herculaneum entdeckt hat, ist erst ein Bruchteil genauer untersucht worden. Und dann besteht auch noch die Möglichkeit, dass in Herculaneum weitere literarische Schätze in Form von verkohlten Papyrusrollen auf ihre Entdeckung warten. Forschende vermuten jedenfalls, dass in den noch nicht freigelegten Räumen der Villa dei Papiri unentdeckte Schriftrollen ans Licht kommen könnten. (Thomas Bergmayr, 26.4.2024)