Eine ATACMS wird im Rahmen einer Übung in Südkorea von einem älteren M270A1 Kettenfahrzeug aus gestartet.
AFP/South Korean Defence Ministry

Mit dem US-Hilfspaket für die Ukraine macht sich auch Langstreckenartillerie mit Kurzstreckenraketen auf den Weg in die Ukraine. Alles klar, oder? Die Verwirrung ist kein Wunder, schließlich folgt die Nomenklatur von Waffensystemen keiner sinnvollen Ordnung. Noch dazu herrscht eine gewisse Uneinigkeit, was genau Lang- und Kurzstrecke bedeutet und was der Unterschied zwischen ATACMS und Himars nun wirklich ist. Heimliche Waffenlieferungen der USA an die Ukraine erschweren es dem Beobachter zusätzlich, den Überblick zu behalten, was da wo im Einsatz ist. Dazu kommt der allgegenwärtige Nebel des Krieges, der die Dinge zusätzlich verschleiert. Ein Versuch der Aufklärung, welche Waffen wirklich an die Ukraine geliefert werden, was sie können und was nicht.

Verwirrung um Raketen

ATACMS, Himars, M39, M57 – folgt man der aktuellen Berichterstattung zum 61 Milliarden Dollar schweren Militärpakets für die Ukraine, ist es nicht immer ganz einfach, den Überblick zu behalten. Doch der Reihe nach. Wie gestern bekannt wurde, haben die USA im März schon mehr oder weniger heimlich Präzisionswaffen vom Typ ATACMS im Rahmen eines Notfallpakets an die Ukraine geliefert.

ATACMS steht für Army Tactical Missile System. Dabei handelt es sich bei per definitionem um eine Kurzstreckenrakete, obwohl die Waffe eine Reichweite von rund 300 Kilometern hat. Das ergibt tatsächlich sogar Sinn, wenn man bedenkt, dass Interkontinentalraketen über Reichweiten weit über 10.000 Kilometer verfügen können. Aber, und jetzt wird es wieder ein wenig komplizierter, ATACMS ist eigentlich eine Artilleriewaffe, und für diese Waffengattung sind 300 Kilometer zweifelsohne unter "Langstrecke" einzuordnen. Im Grunde ist das alles aber auch ziemlich egal, denn was weit, hoch, schwer oder leicht ist, definiert jedes Land ein wenig unterschiedlich.

Eines ist aber klar: Die ATACMS ist eine ballistische Rakete und wird vom Boden aus gestartet. Vor allem die deutschsprachige Berichterstattung verbreitet gerne einen Irrtum, denn die ATACMS ist eine völlig andere Waffe als Marschflugkörper wie die britische Storm Shadow oder die deutsche Taurus. Diese müssen nämlich aus der Luft gestartet werden und folgen einer flachen Flugbahn.

Mehr Reichweite für die Ukraine

Für die Ukraine heißen 300 Kilometer Reichweite, dass sie russische Nachschubwege wie die Kertsch-Brücke, Depots, Hubschrauber, Flugabwehr- oder Raketenstellungen effektiv aus der relativen Sicherheit des eigenen Hinterlandes angreifen kann. Kein Wunder, denn genau dafür wurde die ATACMS entwickelt. Die Rakete soll hochwertige Ziele bekämpfen können, die sich außerhalb der Reichweite "herkömmlicher" Artillerie, also Rohrwaffen, befinden.

Die ATACMS ist eine Feststoffrakete, die bis zu Mach 3 erreichen kann. Die erste Generation aus dem Jahr 1991 hatte noch eine Reichweite von 165 Kilometern. Ab dem Block 1A wurden leistungsstärkere Raketenmotoren eingebaut, sowie die Trägheitsnavigation mit einem GPS-Empfänger und modernerer Steuersoftware ergänzt, was die Reichweite insgesamt auf rund 300 Kilometer erhöhte und die Waffe auch deutlich präziser machte. Die aktuellste Variante ist die MGM-164 ATACMS 2000 (US Bezeichnung: M57).

Gefechtskopf einer Schiffsrakete

Diese verfügt über einen 215 Kilogramm schweren Gefechtskopf, der auch in der Schiffsrakete Harpoon (AGM-84) eingesetzt wird. Für die Army wurde dieser aber modifiziert. Beim WDU-18/B handelt es sich um einen Penetrations- und Splittergefechtskopf. Dieser soll eigentlich ein Ziel zuerst durchschlagen und erst dann zünden. Diese Form der Anwendung ist gegen gepanzerte Kriegsschiffe durchaus sinnvoll. Auch gegen gehärtete Bodenziele wie Bunker ist diese Form der Bekämpfung wirksam.

Aber: Will man etwa ein Feld voll mit feindlichen Hubschraubern lahmlegen, ist ein Penetrationsgefechtskopf eher nicht das Mittel der Wahl. Deshalb wurde die Waffe so modifiziert, dass sie schon in der Luft gezündet werden kann. Der sogenannte Airburst-Mode. Dabei werden Splitter über ein möglichst großes Gebiet verteilt, was auch die Bekämpfung weicher oder leicht gepanzerter Ziele, wie etwa gelandete Hubschrauber, möglich macht.

Nicht ganz neu

Genau zu diesem Zweck hat die Ukraine ATACMS sogar schon eingesetzt, weshalb die "heimliche" Lieferung der USA gar nicht so geheim war, wie gerne getan wird. Der Einsatz von ATACMS durch die Ukraine ist sogar ziemlich gut dokumentiert und geht schon auf den Oktober 2023 zurück. Damals griff die Ukraine zwei Flugfelder nahe dem von Russland besetzen Berdjansk mit ATACMS an. Dabei wurden neun Hubschrauber, ein Munitionslager und angeblich ein Flugabwehrraketensystem zerstört, wie das Wall Street Journal damals berichtete. Dabei dürften aber ältere Varianten der ATACMS mit nur 165 Kilometern Reichweite eingesetzt worden sein. Konkret soll es sich um den ältesten Typ MGM-140A (M39) gehandelt haben. Dieser ist mit Steumunition in Form von 300 kleinen Bomblets bestückt. Diese Mini-Bomben verteilen ihre Splitter in einem etwa 15 Meter großen Radius. Insgesamt kann so ein Kreis mit einem Durchmesser von über 200 Metern abgedeckt werden.

Neun Tage später wurde neuerlich eine ATACMS, ebenfalls des alten Typs, erfolgreich gegen eine S400-Flugabwehrraketenstellung der russischen Armee eingesetzt.

Nun bestätigte das Weiße Haus, dass schon vor einigen Wochen Raketen mit deutlich größerer Reichweite als bisher an die Ukraine geliefert wurden. Dabei dürfte es sich also um die oben erwähnte modernste Form der ATACMS handeln. Mit ihnen soll die ukrainische Armee in der Vorwoche bereits ein Flugfeld auf der von Russland besetzen Halbinsel Krim und Stellungen im Süden der Ukraine angegriffen haben. Neu daran ist, dass die USA der Ukraine offenbar rund 100 derartiger Raketen zur Verfügung gestellt haben.

Himars ist ein Lastwagen, keine Rakete

Noch so ein Irrtum: Himars hat sich in der westlichen Berichterstattung als Synonym für "Rakete" etabliert, nicht zuletzt durch die zahlreichen Memes, die in den sozialen Netzwerken kursieren. Dabei bezeichnet Himars (M142 High Mobility Artillery Rocket System) aber eigentlich nichts anderes als einen Lastwagen mit einem Werfer auf der Ladefläche. Davon sind aktuell 39 Stück in der Ukraine im Einsatz. Diese werden aber hauptsächlich dazu verwendet, um M30/31-Raketen mit einer Reichweite von etwa 70 bis 150 Kilometern abzufeuern. Sechs Stück können von einem Himars aus gestartet werden. Auch die improvisierte GLDSB wird von diesem Werfer aus gestartet. Die Himars werden auch als Startfahrzeug für die neuen Raketen der Ukraine dienen. Pro Starter kann aber immer nur eine der modernsten ATACMS abgefeuert werden. (Peter Zellinger, 26.4.2024)