Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer.
Arbeiterkammer-Wirtschaftsexperte Markus Marterbauer ortet erhebliches ungenutztes Arbeitskräftepotenzial nicht nur bei den als arbeitslos Gemeldeten.
Robert Newald

Derart viel Optimismus wie Markus Marterbauer verströmt dieser Tage kaum ein Wirtschaftsexperte des Landes. Zwar stellt der Chefökonom der Arbeiterkammer (AK) der Regierung ein durchwachsenes Zeugnis aus – durch die Krisen sei Österreich "relativ schlecht" gekommen –, wohl aber ist er für die Zukunft positiv gestimmt. Vorausgesetzt, bestehende Potenziale würden ausgeschöpft. Mit seinen Ansichten zum Arbeitskräftemangel dürfte sich Marterbauer aber wohl kaum Freunde in Regierungs- und Industrievertreterkreisen machen.

So seien die erzielten Erfolge bei den ausgestellten Rot-Weiß-Rot-Karten (prognostiziert werden 10.000 Ausstellungen bis Ende des Jahres), mit denen sich Arbeitsminister Martin Kocher aktuell rühmt, "ja nichts", erklärte Marterbauer am Montagvormittag vor Medienvertretern – und zählte sogleich jene Arbeitskräftepotenziale auf, die er für weitaus bedeutsamer hält. Neben den im April rund 370.000 Menschen ohne Job gebe es weitere 290.000 im Niedriglohnbereich, mehr als 300.000 in der stillen Reserve, fast ebenso viele Teilzeitbeschäftigte, die gern ihre Stunden aufstocken würden.

Höhere Produktivität und "bessere Jobs"

Jene 290.000 Personen, die unter 2000 Euro brutto pro Monat verdienen, möchte AK-Ökonom Marterbauer in bessere Beschäftigungsverhältnisse – sei es besser bezahlt oder zu besseren Arbeitsbedingungen – gebracht sehen. Produktivitätssteigerungen wären auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Folge, auf individueller liegen die Vorteile aus Sicht der Arbeitnehmer ohnehin auf der Hand.

Durch die demografischen Entwicklungen steigt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, Wünsche nach flexiblen Arbeitszeiten und -orten können vielerorts nicht mehr ignoriert werden, ohne selbst in Turbulenzen zu geraten. Durch derartige Dynamiken sei "Arbeitskräfteknappheit etwas Gutes, weil sie zu besseren Jobs führt", zeigt sich Marterbauer überzeugt. Jene Betriebe, die gute Arbeitsbedingungen böten, kämen gestärkt aus der Krise; jene mit wenigen Anreizen würden dem Strukturwandel zum Opfer fallen.

Ganz so einfach dürfte es dann aber auch wieder nicht sein. Auf der einen Seite gibt es eine zusehends länger werdende Liste an Mangelberufen, in denen die Arbeitsbedingungen nicht immer so einfach angepasst werden können. Auf der anderen Seite herrscht mancherorts ein regionaler Mismatch. So gibt es etwa prinzipiell passend qualifizierte Arbeitskräfte im Osten Österreichs, die aber nicht bereit sind, den Wohnort aufs Land zu verlegen, wo Betriebe nicht selten verzweifelt auf der Suche sind.

Weitreichende Folgen

Dessen ungeachtet fordert der AK-Chefökonom neben innerbetrieblichen Weiterbildungen vor allem auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik samt öffentlich finanzierter Qualifizierungsangebote. Denn letztlich sei ein funktionierender Arbeitsmarkt auch für so manch andere künftige Herausforderung entscheidend, sagte Marterbauer mit Blick auf jüngste Budgetprognosen.

Demnach soll das Budgetdefizit laut Fiskalrat sowohl dieses als auch nächstes Jahr über der angestrebten EU-Grenze von drei Prozent liegen, die Staatsschulden auf 79 Prozent der Wirtschaftsleistung ansteigen. Die Bundesregierung war zuvor noch von einer deutlich geringeren Staatsverschuldung ausgegangen.

Würden nun mehr Menschen in höher qualifizierten, produktiveren und besser bezahlten Jobs arbeiten, würde auch der Staatshaushalt profitieren. Schließlich beruht das Gros der Steuereinnahmen auf Arbeits- und Konsumsteuern. Was in der Theorie einfach klingt, dürfte in der Praxis weitaus komplizierter werden. Denn von zuletzt ins Spiel gebrachten Forderungen von Industrie- und Wirtschaftsvertretern scheinen die Vorschläge weit entfernt.

Und auch im Hinblick auf die gezielte Zuwanderung klaffen die Wahrnehmungen auseinander. So vermeldete das Arbeitsministerium erfreut einen Zuwachs von rund 35 Prozent bei den bewilligten Rot-Weiß-Rot-Karten zwischen Jänner und April, mit denen insbesondere qualifiziertes Fachpersonal aus Drittländern nach Österreich geholt werden soll. Allein ein Drittel davon entfällt auf den Tourismus – eine Branche, die vom Arbeitskräftemangel nur so ein Lied singen kann. (Nicolas Dworak, 13.5.2023)