Französischer Historiker Jean Sévillia würdigt Österreich des Widerstands

Pendelausschläge in beide Richtungen charakterisieren die österreichische Geschichtserzählung über die 1930er-Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem das Ausmaß der Mitschuld "Österreichs" an den Nazi-Verbrechen.

Zunächst weitgehend Schweigen und pragmatische Reintegration der österreichischen Nazis in das politische Leben. Spät, sehr spät dann die offene Auseinandersetzung mit dem Thema, ausgelöst vor allem durch die Waldheim-Affäre 1986. War Österreich zunächst das erste Opfer Hitlers, waren später fast alle Österreicher glühende Nazis, die sie sowieso schon immer gewesen waren.

Dabei spielte das berühmt-berüchtigte Bild der hunderttausenden Hitler-Bejubler auf dem Wiener Heldenplatz eine zentrale Rolle. Dabei hat nicht erst Ian Kershaw, einer der weltweit renommiertesten Hitler-Biografen, darauf hingewiesen, dass dieses Foto – wiewohl nicht gefälscht – Kernstück der Nazi-Propaganda war.

Von Gestapo verhaftet

Den jubelnden Österreichern standen jene gegenüber, die kein Propagandafoto zeigt: die 50.000 bis 70.000, die unmittelbar nach dem "Anschluss" von der Gestapo verhaftet wurden.

Auf sie und die vielen anderen, die auf die eine oder andere Art Widerstand geleistet haben, konzentriert sich der französische Journalist, Historiker und Österreich-Spezialist Jean Sévillia in seinem neuesten Buch Cette Autriche qui a dit non à Hitler ("Das Österreich, das Nein zu Hitler sagte").

Sévillias Vater, im Mai 1940 als hoher Offizier der französischen Luftabwehr von den Deutschen gefangen genommen, wurde als Zwangsarbeiter dem Schneidermeister im niederösterreichischen Dorf Gersten zugeteilt.

Ausschaltung der Linken

Dort wurde er sehr gut behandelt und lernte Deutsch. Ab den frühen 1950er-Jahren fuhr die Familie Sévillia regelmäßig zum Urlaub nach Österreich. Daraus entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zu dem Land. Ja, sein Vater habe viele österreichische Nazis gesehen, schreibt Sévillia. Aber niemals habe er Österreich mit Hitler und seinen Anhängern gleichgesetzt.

Sévillia lässt keinen Zweifel daran, dass das autoritäre – aber seiner Überzeugung nach nicht faschistische – Dollfuß-Regime mit der gewaltsamen Ausschaltung des linken Lagers den österreichischen Widerstand gegen die Bedrohung durch Hitlerdeutschland geschwächt hat. Aber auch ein demokratisches Österreich wäre von Hitler geschluckt worden, wie das Beispiel der Tschechoslowakei zeigt. Eben weil die westlichen Demokratien keinen Finger für diese Länder rührten.

Sympathie für "Legitimisten"

Dem inzwischen auch in der ÖVP – wenngleich nicht ganz freiwillig – verfemten Ständestaat-Kanzler Engelbert Dollfuß begegnet Sévillia mit einem gewissen Verständnis, ohne sein autoritäres Regime zu verharmlosen. Sympathie zeigt der Autor auch für die "Legitimisten", also Monarchisten mit Otto Habsburg an der Spitze, die zu den vehementesten Gegnern Hitlers zählten.

Den Widerstand der Kommunisten bewertet er implizit höher als jenen der Sozialdemokraten. Viele Sozialisten seien zu den Kommunisten übergewechselt, weil diese ab 1934 die einzige organisierte Struktur auf der Linken aufrechterhalten hätten.

Allein eine Zahl unterstreicht laut Sévillia die Bedeutung des österreichischen Widerstandes: Von den 6,5 Millionen Bürgern der "Ostmark" seien rund 10.000 vom berüchtigten Volksgerichtshof oder Kriegsgerichten zum Tode verurteilt worden oder auf andere Weise nach ihrer Festnahme ums Leben gekommen. Zum Vergleich habe es im deutschen Land Hessen (fünf Millionen Einwohner) 69 Todesurteile durch den Volksgerichtshof gegeben.

Unhaltbare Behauptung

Die Behauptung, Österreicher seien überproportional an der Vernichtung der Juden beteiligt gewesen, nennt Sévillia schlicht falsch und lässt wiederum Zahlen sprechen: Nach einer Analyse des Historikers Kurt Bauer, die sich auf Recherchen seines Mitarbeiters Wolfgang Graf beruft, seien von 738 SS-Generalen im gesamten Reich 51 österreichischer Herkunft gewesen, 6,9 Prozent im Vergleich zum Anteil von 8,8 Prozent der Österreicher an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs.

Sévillia würdigt die vielen kleinen und verstreuten Widerstandsgruppen, von denen O5 mit den Brüdern Molden und deren Gleichgesinnten am bekanntesten ist. Zum Schluss stellt er die Frage: "Warum spricht man so wenig vom österreichischen Widerstand? Minoritär und symbolisch, aber heldenhaft, verkörperte er das Beste an Österreich." Natürlich sei das Nazi-Regime von den Alliierten niedergerungen worden. "Aber wenn die Sieger die Fackel der Freiheit an Österreicher weitergeben konnten, schuldet Österreich dies jenen seiner Kinder, die Nein zu Hitler sagten."

Vielleicht ein wenig pathetische, sicher aber im Kern wahre Worte. Und dass sie von "außen" kommen, macht sie umso bemerkenswerter. Das große Manko, dass es keine deutsche Ausgabe gibt, wird hoffentlich bald behoben. (Josef Kirchengast, 4.5.2024)

Jean Sévillia, "Cette Autriche qui a dit non à Hitler. 1930–1945". € 24,– / 512 Seiten. Perrin, Paris 2024
Cover: Perrin